Na? Wie viel Esoterik hat sich schon in deinen Arbeitsalltag geschlichen? Wirst du noch gecoacht oder therapierst du schon selbst?

„Wann wird Coaching, Beratung usw. übergriffig? Woran kann ich das erkennen? Mit welchen Argumenten kann ich mich zur Wehr setzen und/oder anderen bei der Aufklärung helfen? Hat Coaching in der Unternehmensberatung und im Führungskräfteseminar wirklich etwas zu suchen? Und wenn ja – warum und in welchem Rahmen?“

Unter diesem Titel habe ich neulich im Rahmen der #FriendsofFormwelt mit anderen diskutiert, und uns war mehrfach zwischendurch gleichzeitig zum Lachen und zum Haare raufen.

Ich habe zu der Debatte einen Artikel geschrieben und mit vielen Zitaten und Aussagen aus unserer anschließenden LinkedIn Diskussion ergänzt.

 

Da hatte ich aber auch ganz schön was zu „gestehen“, neulich bei den #FriendsofFormwelt… Doch die Gesprächsrunde war gnädig mit mir. 

Ich hatte mir das genannte Thema gewünscht, weil da so unglaublich viel Musik drin ist und verschiedene Facetten reinspielen – Aber auch, weil ich selbst beobachte, wie ich a) schonmal bei Nicht-Anwesenden in die Verdächtigungspsychologie abrutsche, und b) weil in meinem Sparring, in der Aufgabe, Menschen Orientierung und Tipps zu geben, generell in meinem Arbeitsalltag manchmal Coachingelemente vorkommen, bei denen die Grenze zur Therapie droht, zu verschwimmen.

Also habe ich während der Diskussion gestanden, dass mir selbst gerne mal meine „Big Mama Vibes“ in die Quere kamen, ich in Vergangenheit auch mal länger in Austausch mit Coachees/Mentees blieb, als es angebracht war. Denn viel öfter müssten nämlich Menschen, die sich als Sparringspartner*innen und Coaches anbieten, aber keine psychologische oder therapeutische Ausbildung haben, sagen „Ab hier bin ich nicht mehr die oder der Richtige für das Gespräch.“

Das passiert vor allem deshalb noch zu selten, weil „da draußen“ viel zu viele selbst ernannte oder durch 6-Wochen-Online-Kurse frisch gekürte Life-Coaches lustwandeln, die einfach zu wenig theoretische Ausbildung genossen haben.

Aber auch ganz allgemein ist bei der Coaching Bubble scheinbar schon sehr lange sehr viel im argen…

Hast du auch manchmal das Gefühl, viel zu schnell bei jemandem auf der Couch zu landen?

 

1. Beobachtung: Es werden immer öfter Selbstorganisation und agile Arbeitsweisen eingefordert, diese benötigen allerdings einen Grad an Selbstverantwortung, der vielen in der „alten Arbeitswelt“ abtrainiert wurde. Und so AUCH dadurch viele Verletzungen erlitten wurden. Ich beobachte deshalb, dass viele, vor allem ältere, gestandene Arbeitnehmer*innen, die Interesse an Sparring und Coaching zeigen, eigentlich tiefer arbeiten müssten.

Ganz fatal wird es dann, wenn eine Verleitung entsteht, Grenzen ins persönliche Coaching mit Therapie zu überschreiten, wenn wir doch eigentlich (nur) im Kontext der Organisation unterwegs sind. In so einem Fall waren wir uns sehr schnell sehr einig: Es kommt immer mehr Esoterik in das Thema Unternehmensberatung hinein, und DAS hat im Organisationsdesign nichts zu suchen – da brauchen wir klare Techniken.
Wird mit einem systemischen Ansatz an den Strukturen, also dem Design einer Organisation gearbeitet, ist die Psyche einzelner Beteiligter tabu. Oder wie Gitta Peyn so schön formulierte:

„Psyche als heiliger Boden! Da müssen wir im strukturellen Kontext nicht ran.“

2. Beobachtung:  Es gibt eine zunehmende, mangelnde Konfliktbereitschaft und falsch verstandenes Harmoniebedürfnis in Teams und bei (Möchte-Gern) Coaches, wodurch sich sehr regelmäßig Übergriffigkeiten beobachten lassen: zum Beispiel das Kollektive „Meditieren müssen“ in einem Meeting, ob Mensch nun will oder nicht.

Zu diesem Aspekt hat Arne Schröder von den Kurswechslern auf LinkedIn so hilfreich ergänzt:

„Für mich entsteht die Übergriffigkeit da, wo echte Freiwilligkeit nicht mehr stattfinden kann. Im Kontext von Arbeit ist das leider viel zu oft der Fall. Gerade in vielen „New Workigen“ Organisationen scheint psychologische Nacktheit zunehmend zur Mitgliedschaftsbedingung zu werden. Das finde ich höchst bedenklich und im konkreten Fall oft grenzüberschreitend.“

 

Ist man wie ich auch mit der marken-strategischen Brille in Sozialen Netzwerken unterwegs, ist es nicht zu übersehen: Alle werden Life Coaches auf instagram, Clubhouse und im Zuge des Megatrends Persönlichkeitsentwicklung auch sehr viel auf LinkedIn, und beginnen dann, mit selbstgemaltem Zertifikat regelmäßig in anderer Leute Psyche herum zu wühlen.

An dieser Stelle darf ich noch einmal die geniale Gitta zitieren:

„Spekulationen über die Psyche des Anderen, ohne dass die Person darum gebeten hat, sind zu unterlassen.“ Oder auch „lass bitte deine dreckigen Finger aus meiner Psyche!“

Generell ist für mich bei diesem Megatrend Persönlichkeitsentwicklung / Life Coaching schon besorgniserregend, was da gerade an Geld gemacht wird – ständig möchte mir jemand ohne fundierte Ausbildung, aber mit begnadeter Selbstüberschätzung sagen, was mit meinem Mindset nicht passt oder wo ich angeblich mein Potenzial nicht erreiche oder „mein Licht unterdrücke“, oder was noch alles mit mir angeblich nicht stimmt. Eine sich selbst am Leben erhaltene Branche, die zunehmend unverschämt agiert.

Auch hier gab es einen fantastischen Kommentar in der LinkedIn-Diskussion von Dr. Karin Kelle-Herfurth, den ich nicht vorenthalten möchte:

„Sorgen, dass sich immer mehr nicht therapeutisch und wissenschaftlich ausgebildeten Leute zutrauen und anmaßen, Menschen in (vermeintlichen) psychischen Problemlagen zu beraten, hobbypsychologisch Persönlichkeitsstrukturen zu analysieren und Diagnosen verteilen und gerne auch unter Deckmänteln wie #Mindset #MentalHealth und #Mindfulness Training von einem Mainstream-Konditionierungsmuster ins nächste schlittern und Gutgläubige mitziehen. Helfen wollen klingt toll und harmlos, kann aber gefährlich werden ohne Professionalität, supervidierte u. ggf. berufsrechtliche Selbst-/Regulierung, zumal es unbewussten eigenen, u.a. narzisstischen Bedürfnissen und dem Konto dient. Und klar kommt Bekümmert werden an, aber wie viele werden psychologisiert, weil sie es nicht erkennen, besser wissen, anders können oder auch nicht wollen? Zu welchem Preis? Die einen bringen ominöse Leadership-Coachings und Kuschelkultur-Kurse in die Orga und die Profis therapieren die Folgen dadurch weg.“ 

3. Beobachtung: Durch den Bedeutungsverlust von Religionen und dem allgemeinen Grenzen-Verschwimmen im Arbeitskontext wird viel zu oft von Menschen Coaching und Hobbytherapie regelrecht eingefordert – das heißt, selbst wenn DU dir der Stolperfallen bewusst bist, bist du dennoch noch zu häufig damit beschäftigt, solche Einladungen sehr bewusst abzulehnen und Grenzen zu artikulieren.

ALSO: Ich finde es ja an sich gut und erst einmal auch richtig, dass Coaching zunimmt, jedoch:

– lauern überall übergriffige Impulse, die in Summe überfordern und einsam machen: Es wird künstliche Nähe aufgebaut, um etwas besser verkaufen zu können, es wird suggeriert, mit dir stimme etwas nicht, und anschließend wirst du wieder allein gelassen.

– Es wird Geld verbrannt ohne Ende, weil Viele eben nicht fundiert arbeiten (Selbsthilfebücher, Online-Kurse)

– Coaching kriegt immer mehr Budget, wird Privileg für Führungskräfte und das neue „Eckbüro“: wenn ich wichtig genug bin, dann mischt sich das Unternehmen auch schonmal ein, an welchen persönlichen Themen ich arbeiten sollte. Allerdings wird dann auch gern im nächsten Schritt in falsch verstandenen Leadership Trainings postwendend die Führungsfähigkeit wieder abgesprochen, weil man „auf das persönliche Thema ja erst nochmal hingucken müsste“, weil man „ja noch nicht so weit sei, wie die anderen“.

Das finde ich hochgradig fragwürdig!

Auch hierzu gibt es ein passendes Zitat vom besagten Diskussionsabend:

„Die Psyche des Anderen zum Leadership Thema machen?! Wie übergriffig!“

Eine gute Führungskraft sorgt dafür, dass morgens alle die Bedingungen vorfinden, um Qualität zu erzeugen. (Frei nach Mari Furukawa-Caspary) – And that`s it!

4. Beobachtung: Und ist es nicht auch ein ganz schönes Wohlstandsthema, worüber wir in Summe so unzufrieden sind? Liegt es auch daran, weil wir außerhalb der Covid-Krise nicht gewohnt sind, Mangel und Frustration auszuhalten?

5. Beobachtung: Was machen diese Trends denn mit denen, die jetzt erst mit Berufsorientierung anfangen? Meine ganz persönliche narrative Verzerrung ist ja, dass aktuell sehr viele junge Menschen auf den Arbeitsmarkt kommen, die sehr sensibel sind gegenüber Ungerechtigkeiten und zum Teil eigenen Bedürfnissen, Partizipation einfordern, gleichzeitig aber (Vorsicht, ab hier schlingere ich selbst wieder in Verdächtigungen ;)) durch Abwesenheit der Elter-Teile, die oft viel arbeiten, eh schon einsam und relativ orientierungslos auf eine Szene losgelassen werden, die zu gern noch „familiäres Miteinander“ in StartUp-Atmosphäre verspricht, in der sich unsichere Führungskräfte Übergriffigkeiten leisten und zu oft verlangt wird, sich im Job ordentlich zu verbrennen.

Any predictions?

Zu guter Letzt haben wir übrigens auch noch Erste-Hilfe-Maßnahmen formuliert:

Falls DU merkst, dass jemand übergriffig wird und dich psychologisiert:
Dieses Gespür ist schon der wichtige, erste Schritt. Schluck es nicht herunter – doch wenn du nicht weißt, wo du es hinbringen sollst, such dir erst einmal einen Stein oder etwas anderes zum Anbrüllen, schreibe einen wütenden Brief und bleibe im Zweifel somit erst einmal im Umgang mit dir selbst.

Zentral blieb für uns an diesem Abend, die Rolle des Coachings und die Bedingungen, die hierfür geklärt sein müssen, immer wieder neu beleuchten und benennen zu wollen: Freiwilligkeit und Auftragsklärung.  Auch deshalb biete ich dir als Schlusswort noch diese wichtige Ergänzung von Gitta Peyn an:

„Ich würde noch hinzufügen, dass bei der Auftragsklärung auch die Modellhintergründe eine Rolle spielen. Wer mit esoterischen Techniken arbeitet oder mit Vereinfachungsmodellen, sollte das von Anfang an klar stellen und auf die Kontingenz und Problematik der Ansätze verweisen.
„Sie funktionieren für mich, müssen aber nicht für Dich passen, und sie sind definitiv kontingent“ wäre eine Aussage, die hier funktioniert.
Und vor allem sollte der Coach sich selbst von der Frage fernhalten, welche psychischen Motive hinter der Art des Coachees steckt. Ich höre immer wieder Coaches darüber reden, was jemand so alles noch lernen muss. Ich würde das lassen, da ich so etwas in der Regel gar nicht beurteilen, sondern höchstens vermuten kann und da nicht weiß, wie sich das Ganze vernetzt. Komplexität berücksichtigen bedeutet, keine Diagnosen erstellen.
Das sagt übrigens Fritz B. Simon, Psychiater und Systemforscher, ebenfalls. Eine Diagnose bekommt man bei ihm zum Schluss der Therapie, wenn sie denn überhaupt jemand hören will, da Diagnosen nichts taugen. Sie helfen weder dem Therapeuten noch dem Patienten. Es geht mehr um wechselseitige Klärungsprozesse.“

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Nachdem du nun weißt, worauf es ankommt – Sparring gefällig? 

Ich helfe dir, deine persönlichen Fragen zu New Work und Leadership zu beantworten: